Author: Dijana
„Stärker, gerechter, sozialer“ – die Bundesregierung verspricht mit der Trio-Ratspräsidentschaft Großes. Was das für die Menschen in Europa bedeutet? politikorange-Redakteurin Dijana hat sich damit auseinandergesetzt.
© Nina Kolak
Von Juli bis zum Ende des Jahres wird Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Auf die Bundesrepublik folgen Portugal und Slowenien. Kanzlerin Angela Merkel sieht sich jetzt mit hohen Erwartungen konfrontiert. Denn durch die Ratspräsidentschaft Deutschlands erhoffen sich deutsche und europäische Politiker*innen einen neuen Kurs für die Europapolitik. Aber was kann der Rat überhaupt bewirken? Und was steht in dem 28-seitigen Strategiepapier, das die Bundesregierung im Zuge der Trio-Ratspräsidentschaft verabschiedet hat?
Die Macht des Europäischen Rates
Der Rat der Europäischen Union wird auch „Ministerrat“ genannt. Dieser Name hat einen Grund: Der Rat ist eine EU-Institution, in der nationale Minister*innen der Mitgliedsstaaten tagen. Per Definition wäre es ihm möglich, internationale Verträge für die Union zu schließen. 27 Minister*innen aus den 27 verschiedenen EU-Staaten mit zum Teil sehr unterschiedlichen Zielen, machen den Entscheidungsprozess oft sehr kompliziert.
Durch die Ratspräsidentschaft kann ein Land die Tagesordnung der Minister*innentreffen vorschlagen und somit wichtigen Themen Raum geben. Über Gesetzesentwürfe kann der Rat der EU nur abstimmen. Vorschlagen darf er sie nicht. Diese Kompetenz heißt Initiativrecht und liegt bei der Europäischen Kommission. Der Rat ist außerdem für die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik zuständig.
Das ist Minna Ålander. Ihr Expert*innengebiet: Die EU. © SWP
Die Planung der deutschen Ratspräsidentschaft 2021 hält Minna Ålander, Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), für „sehr ehrgeizig.“ Das liege aber vor allem an den besonderen externen Bedingungen: „Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Deutschland sich eher ambitionslos gezeigt, und als Priorität nur einen Gipfel mit China angekündigt. Covid-19 hat die deutsche Präsidentschaft in ihrer Wichtigkeit jedoch deutlich aufgewertet.“
Das Corona-Virus und seine Folgen
Im Mittelpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft wird also zwangsläufig der Umgang mit der Covid-19-Pandemie stehen. Ganz klares Ziel ist die längerfristige und effiziente Eindämmung der Pandemie. Auch die wirtschaftliche Rehabilitation der EU scheint das Thema zu sein. Arbeitsplätze sollen erhalten bleiben und die Veränderungen des Marktes durch den Green Deal sollen möglichst sozial erfolgen. Gleichzeitig strebt die deutsche Ratspräsidentschaft die Erhöhung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit an – beginnend bei der industriellen Produktion.
Aus dem Chaos lernen
Das ist die Wissenschaftlerin Susan Bergner, die sich mit gesundheitspolitischen Themen auskennt. © SWP
Das EU-Krisenmanagement ist ausbaufähig. Das hat spätestens die Coronapandemie gezeigt. In zukünftigen Herausforderungen soll die EU sich daher mit einem verbesserten Mechanismus vor Katastrophen schützen können.
Die Wissenschaftlerin Susan Bergner setzt sich in ihrer Arbeit mit globalen gesundheitspolitischen Fragen auseinander. Sie hält es für realistisch, dass EU- Mitgliedsstaaten und Institutionen sich durch die Ratspräsidentschaft auf verbesserte Mechanismen im Krisenmanagement einigen könnten: „Mit Blick auf die Erfahrungen und das Chaos zu Beginn der Pandemie in Europa, haben daran alle Parteien ein Interesse. Ich befürchte jedoch, dass diese Maßnahmen nicht weitreichend genug sein werden, um an den Kern des Problems zu dringen, nämlich die Stärkung von Gesundheitssystemen in Europa.“
Zum Eindämmen der Krise war in der Vergangenheit aber vor allem das Nachverfolgen von Infektionsketten wichtig. Deshalb spricht sich die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für das Nutzen von Ortungs- und Warn-Apps aus, die europaweit funktionieren und sich der Datenschutz-Grundverordnung fügen sollen. Das Benutzen solcher Apps soll freiwillig bleiben. Wie genau das aussehen soll? „Nicht viel anders als die Corona-Warn App, die wir in Deutschland bereits haben – nur auf ganz Europa ausgebreitet. Die Kommission macht bereits Tests für eine solche digitale Infrastruktur“, so Susan Bergner.
Gerecht, gerechter, EU?!
© Dijana Kolak
„Ein gerechtes Europa“ – so heißt in der Strategie der Vorschlag für nationale faire Mindestlöhne. Um diese auch auf europäischer Ebene zu gewährleisten, will der Rat den Vorschlag eines „fairen“ Mindestlohns mit der Kommission diskutieren. Ziel ist es, eine soziale und finanzielle Absicherung auf europäischer Ebene voranzubringen. Wie hoch dieser Mindestlohn ausfallen soll, bleibt allerdings unklar.
Die EU-Expertin Minna Ålander sieht die Durchsetzung eines europaweiten Mindestlohns eher kritisch: „Vor allem die nordischen EU-Mitglieder Dänemark, Finnland und Schweden, aber auch Österreich, sind gegen die Initiative. In den Ländern existieren bereits umfangreiche Tarifverhandlungssysteme, wodurch Einkommensunterschiede möglichst gering gehalten werden. Da zudem die Arbeitsmarktmodelle in den europäischen Ländern teilweise stark variieren, wird es ohnehin schwierig, ein für alle EU-Mitglieder sinnvolles Niveau für einen EU-weiten Mindestlohn zu finden.“
Dem Thema „Schutz und Teilhabe junger Menschen“ sind im Strategiepapier zwei Absätze gewidmet. Die Ratspräsidentschaft konzentriert sich dort auf die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und auf die Erweiterung eines Jugendarbeitsangebotes. Auch in der Klimagerechtigkeit soll es vorangehen. Der Begriff zeigt den Klimawandel als politische sowie ethische Herausforderung auf. Die Beratungen zu einem Entwurf eines europäisch verbindlichen Klimaschutzgesetzes möchte der Rat zeitnah abschließen. Derzeit sieht dieser eine Klimaneutralität bis 2050 vor.
Zeitgeist und Modernisierung treffen auf die EU
Moderne Technik, eine voranschreitende Digitalisierung und das Ziel, eine gemeinsame Dateninfrastruktur zu schaffen: Ein weiterer Fokus der deutschen EU-Ratspräsidentschaft liegt auf der Digitalpolitik. So wurde Ende September das GAIA-X-Programm gelauncht. Das ist eine europäische Cloud, die für Unternehmen gedacht ist und erstmalig eine europäische Dateninfrastruktur schafft.
Auch Hate-Speech und Falschmeldungen im Internet sind Probleme, für die die deutsche Ratspräsidentschaft aktiv nach Lösungen sucht. Außerdem will die EU eine Antwort auf zukünftige Herausforderungen der Digitalisierung finden und dabei zum Beispiel einen europäischen Umgang mit künstlicher Intelligenz entwickeln.
Die Ziele der Ratspräsidentschaft bezüglich Gendergerechtigkeit werden hingegen nur kurz erörtert. Hier möchte die Ratspräsidentschaft gegen geschlechterspezifische Gewalt vorgehen und den (bereinigten) Gender-Pay-Gap beheben. Außerdem unterstützt die Ratspräsidentschaft die neue Strategie der EU-Kommission für die Geschlechtergerechtigkeit.
© Dijana Kolak
Europäisches Asylsystem? Fehlanzeige!
Der Umgang mit Migration erhitzt in der EU schon seit Jahren die Gemüter. Ein europaweites Asylsystem, das flüchtenden Menschen Schutz bietet, die Grundrechte wahrt und die Geflüchteten unter allen EU-Mitgliedsstaaten gerecht aufteilt, ist derzeit nicht in Planung. Im Zuge der Ratspräsidentschaft möchte Deutschland sich stattdessen für die Bekämpfung der Fluchtursachen einsetzen und das System der Rückführung effizienter gestalten. Es unterstützt den Ausbau von Messinstrumenten, die Migrationsverläufe anzeigen sollen. Ein verstärkter Schutz an den EU-Außengrenzen soll zudem die sogenannte „Schleuserkriminalität“ nachhaltig bekämpfen. Bei der Aufnahme von Asylsuchenden hofft der Rat auf internationale Unterstützung.
Durch die Corona-Pandemie treten allerdings humanitäre Herausforderungen immer weiter in den Hintergrund – so auch der europäische Umgang mit Asylsuchenden. Das Nicht-Handeln der EU in Krisensituationen wird von Seenotretter*innen wie Mattea Weihe scharf kritisiert. Sie ist Cultural Mediator bei Sea-Watch und meint dazu: „Die Corona-Pandemie wird von europäischen Politiker*innen als Ausrede benutzt, sich nicht ihrer Verantwortung stellen zu müssen, Menschenleben zu retten.“
Die EU betrifft uns alle! © Dijana Kolak
Von Berlin nach Lissabon
Am Ende dauert die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nur ein halbes Jahr. Das ist wenig Zeit, um grundlegende Änderungen herbeizuführen. Dabei treten die unterschiedlichen Ratsformationen nur zwei Mal zusammen. Einen großen Umbruch wird es mit der deutschen Ratspräsidentschaft deshalb vermutlich nicht geben. Auch mit der Präsidentschaft Portugals und Sloweniens wird die EU keine Kehrtwende hinlegen. Minna Ålander denkt aber, dass trotzdem etwas bewegt werden kann: „Klar ist, dass Deutschland vieles an die nachfolgende portugiesische Präsidentschaft übergeben muss; vor allem wenn es ins Detail in der Umsetzung der unter der deutschen Ratspräsidentschaft verhandelten Leitlinien geht“.
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